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Ich hab Prüfungsangst!

Ich komme in den Beratungsraum. Da sitzt wieder so ein armes Kind mit Prüfungsangst. In meinem Fall ist das Kind schon 20. Augen auf den Boden gerichtet, gibt es mir schüchtern die Hand.

 

Früher habe ich nicht geglaubt, dass es Prüfungsangst gibt. Ich habe nämlich keine oder nur sehr wenig und ich war davon überzeugt, dass es bei Schüler/innen, die über Prüfungsangst klagen eigentlich nur darum geht, eine Ausrede zu finden für nichts gelernt zu haben und eine schlechte Note zu schreiben.

 

Mein Chemielehrer ...

Seitdem ich Beratungslehrerin bin, denke ich anders darüber und glaube, dass jeder Lehrer ein bisschen dazu beitragen kann, dass die Prüfungsangst einzelner Schüler/innen weniger wird. Bei Angst lässt sich Wissen nicht abrufen - eine Sache, die unsere Lehrer früher wohl eher nicht gewusst haben. Ich hatte einen Chemielehrer, der jede Stunde vorne vor seinem Pult drohnte, sein Notenbüchlein zückte (die ganze Klasse verfiel in Schockstarre) und den Finger an den Schülernamen herauf- und heruntergleiten ließ, um dann ein militärisches: "Heute kommt nach vorne und hält einen zackigen Vortrag ...." - Spannung steigt ... "Herr ...." alle Mädchen atmen auf ..."Schneider" auszustoßen. Der arme Tropf erhob sich langsam und ging mit blässlich rotem Gesicht nach vorne und stellte sich vor das Chemiepult neben den gestrengen Lehrer, der Lehrer Lempel wie aus dem Gesicht geschnitten war. Dieser blickte böse und forderte dann: "Dann lege Se mal los, Schneider!"

 

Erst mal Aufklärung

Wenn wieder so ein geplagtes Menschlein vor mir steht, dann kläre ich ihn erst einmal auf, warum ihm bei Prüfungsangst nichts einfällt. Viele Schüler/innen schämen sich, dass es ihnen so geht, halten sich für unfähig und bugsieren sich damit selbst in eine depressive Verstimmung hinein. Da ist es hilfreich, wenn sie hören, wie vielen anderen es auch so geht und dass es gute Gründe dafür gibt, dass ihnen im Angesicht der Prüfungsangst nichts mehr einfällt.

 

In früheren Zeiten war es wichtig beim Anblick von Gefahr - der Säbelzahntiger naht - ganz schnell zu reagieren, nämlich mit Flucht oder Kampf. Dazu war es weniger hilfreich, wenn man auch in einem solch gefährlichen Moment ruhig Blut behielt, erst mal überlegte, was denn jetzt eine gute Vorgehensweise wäre, denn dann war man vermutlich schon gefressen. Überlebt haben also die, die flüchteten oder kämpften, nicht die Überleger. Das macht unmittelbar einleuchtend, warum dem Schüler/der Schülerin beim Anblick der Klassenarbeit nichts mehr einfällt. Also: Alles ganz normal.

 

Der Gedanke an die nächste Klassenarbeit beherrscht das Leben

Im Fall des oben erwähnten Kindes, nennen wir es mal Henry, stellte sich heraus, dass Henry eigentlich fast nichts mehr machte außer zu arbeiten und zu lernen. Oder darüber nachzudenken, wie er sich in der nächsten Prüfung fühlen würde. Und dann schnell wieder zu lernen. Auf meine Frage, welche Hobbys er denn habe und was er in seiner Freizeit gerne tun würde, wusste er kaum eine Antwort. Die Prüfungsangst dominierte sein Leben, er lernte oder er arbeitete und ab und zu schlief er auch. Und da ist er kein Einzelfall.

 

Die Schüler/innen sind immer verwundert, wenn ich ihnen dann "freie Zeit" verordne. Sie müssen sich bis zum nächsten Termin überlegen, was sie früher gerne gemacht haben, ich motiviere sie auszugehen und vor allem eine Sportart zu finden oder wieder aufzunehmen, die ihnen wirklich Spaß macht. Durch die allgegenwärtige Angst sammelt sich Adrenalin im Körper (Flucht oder Angriff) und das muss abgebaut werden. Täglich eine halbe Stunde locker durch die Gegend zu joggen oder Fahrrad zu fahren oder mit dem Hund zu gehen reicht aus. Wenn aber Hip Hop Dance oder Trampolin springen die Favoriten sind, dann ist das auch super. Neben dem Abbau des Adrenalins bringt Bewegung in der Regel neue Gedanken und Selbstbewusstsein mit sich. Beides kann man bei diesem Thema gut brauchen.

 

Zweiter wichtiger Punkt, den ich abprüfe, ist die Ernährung: Ein Übermaß an Fastfood oder Zucker schadet ebenfalls der Konzentration. Es gibt dazu eine Menge Ratschläge im Netz (Brainfood), daher beschränke ich mich auf den einen: Viel Obst und Gemüse, viel Wasser trinken und vor allem regelmäßig essen. Das hat mir gut gefallen: Rezepte gegen Prüfungsstress

 

Eine dritte Empfehlung ist das Erlernen von Entspannungstechniken wie das Autogene Training, Muskelentspannung nach Jacobson, Yoga, Meditation, da findet heute jeder etwas Passendes. Erste Hilfe bietet auch immer der Sichere Ort.

 

Dann die Analyse

Es ist wichtig genau herauszufinden, wann die Prüfungsangst begonnen hat. Oft weiß der Schüler/die Schülerin, wovon sie ausgelöst wurde. Prüfungsangst ist erlernt! Das bedeutet, dass man sie auch wieder verlernen kann.

 

Dann gehe ich zurück zu dem Zeitpunkt bevor die Prüfungsangst auftrat und versuche herauszufinden, welche Bedingungen damals den Erfolg bei der Prüfung begünstigt haben. Diese Bedingungen schreiben wir auf und der Schüler/die Schülerin überlegen, welche der Bedingungen sich auf die heutige Situation übertragen lassen. Das kann z.B. das Lernen in der Gruppe sein, oder das Lernen mit einer guten Freundin. Eine Schülerin lernte gerne mit Lernplakaten, eine andere gerne in der Natur. Dadurch, dass inzwischen eine so starke Fixierung auf das Versagensthema stattgefunden hat, haben die Schüler oft vergessen, welche Strategien für sie früher erfolgreich waren.

 

Ein weiteres Analysethema sind die Lerntechniken: Welche Lerntechniken kennt der Schüler und welche wendet er wofür an. Es ist überraschend, wie viele Schüler glauben, dass das mehrfache Durchlesen der Unterlagen für die Vorbereitung genügt. Auch zum Thema Lerntechniken gibt es unzählige Artikel im Internet, sodass ich hier das Thema nicht vertiefen möchte. Meine präferierten Lerntechniken sind die Mind-Map, um sich zunächst einen Überblick über ein Thema zu verschaffen, Zusammenfassungen als Übersichten zu erstellen, Karteikarten, um den Lernstoff in kleine Teile zu zerlegen und die Loci-Technik fürs Auswendiglernen unzusammenhängender Begriffe. Im Einzelfall muss man natürlich herausfinden, was der Schüler braucht und was ihm dient.

 

Abhilfe

Was dem Schüler letztendlich hilft, ist sehr unterschiedlich.

 

Im Falle von Helen war es einfach der Vorsatz "Ich mache es so gut wie ich es kann", d.h. sie beschloss von ihrem Perfektionismus abzulassen und auch mit einer 3 zufrieden zu sein.

 

Bei Ben half das Ankern am besten: Dazu wird der Schüler in eine ressourcenreiche Situation geführt, eine sehr positive Situation in der Vergangenheit, in der er sich als glücklich und erfolgreich wahrgenommen hat. Auf dem Höhepunkt der Vorstellung wird ein sensorischer Impuls gesetzt, in diesem Fall das Drücken eines Punktes an der linken Hand mit der rechten Hand. Die Verknüpfung muss zuhause öfter wiederholt werden. Ist sie eingeübt, so kann sie im Falle der Prüfung einfach abgerufen werden. Sie entspannt und führt den Schüler in die positive Situation, die er sich damals ausgedacht hat. Durch die Entkrampfung werden seine Gedanken wieder frei und er kann fortfahren.

 

Auch das Züricher Ressourcen Modell nach Maja Storch kann hier erfolgversprechend eingesetzt werden. Da dieses Modell recht umfangreich ist, werde ich seinen Einsatz bei Prüfungsangst in einem späteren Artikel ausführlicher darstellen. Kurz gesagt geht es darum, dass die Schüler sich einen Mottosatz ausdenken, der für sie positiv aufgeladen ist. In der Prüfungssituation sagen sie sich diesen vor und können sich dadurch entspannen.

 

Was können Sie als Nicht-Beratungslehrer für den von Prüfungsangst geplagten Schüler in Ihrem Unterricht tun?

 

Alles, was ihn entspannt, ihn aus seinem Tunnel herausführt, wird ihm helfen. Schaffen Sie eine angstfreie Atmosphäre vor der Klausur, überlegen Sie, ob Sie eine kleine Phantasiereise mit ihrer Klasse machen (wenn sie lachen, ist doch nicht schlecht, entspannt auch), lassen sie sie etwas essen und trinken während der Klausur und haben Sie einen achtsamen Blick auf die Schüler/innen, die es lange nicht schaffen, etwas zu Papier zu bringen. Geben Sie ihnen - wenn möglich - einen kleinen Anschubser, ermutigen sie sie ein paar Mal tief zu atmen, sich ein wenig zu bewegen, das alles kann schon ein bisschen helfen. Und wenn jemand wirklich auffällig ist, dann bieten Sie ihm einen Termin beim Beratungslehrer oder der Sozialpädagogin an und begleiten sie ihn bei Bedarf dorthin. Dann ist schon eine Menge gewonnen.

 

Wenn Sie etwas über Ihre Erfahrungen mit Prüfungsangst berichten wollen, dann können Sie das hier gerne tun.

 

Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Woche und grüße herzlich

eure Ute Matthias

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