Eine neue Klasse
Ich habe eine schicke neue Klasse in diesem Schuljahr und freue mich. Doch schon nach einigen Stunden zeigt sich: Nicht alle Schüler*innen aus dieser Klasse wollen lernen, manche sitzen hier, weil sie keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, weil die Eltern es wollen, weil sie nicht wissen, was sie sonst tun könnten.
Der Anfang ...
Am Anfang läuft es eigentlich ganz gut, obwohl schon einige in den ersten Stunden keine Hausaufgaben machen. Aber es ist immerhin ruhig in der Klasse und die Schüler*innen bearbeiten im Unterricht die Aufgaben, beteiligen sich an Phasen des Unterrichtsgesprächs und an Gruppenarbeiten.
Doch von Stunde zu Stunde wird es immer lauter.
Das Chaos bricht aus
Das Ganze gipfelt in einer Stunde, in der ich versuche das Thema "Handelsregister" den Schüler*innen näher zu bringen und einfach keinen Fuß auf den Boden bekomme. Es ist so laut, dass selbst die Schüler*innen, die sich beteiligen möchten, sich nicht mehr beteiligen können. Wenn jemand anfängt einen Beitrag zum Unterricht zu formulieren, fangen andere an zu brummen. Ich selbst kann auch nichts mehr sagen, ohne dass die Brummer anfangen zu stören. Es ist unsäglich. Der Beamer funktioniert nicht, die Kabel für die Objektkamera sind alle auseinandergestöpselt. Dauernd geht jemand zum Waschbecken, entweder um sich die Nase zu putzen oder um etwas in den Mülleimer zu werfen. Meine Ermahnung, die Schüler*innen sollen nicht durch die Klasse laufen während des Unterrichts, geht im Tumult unter.
Das sind keine Grundschulkinder, nein die "Kinder" sind durchschnittlich 16 Jahre alt und freiwillig hier. Also wenigstens vordergründig, siehe oben.
Da man den Beamer und die Objektkamera nicht nutzen kann, schreibe ich die Lösung für das Arbeitsblatt an die Tafel. Während ich mich zur Tafel umdrehe, fliegen Plastikcolaflaschen durch den Raum, was ich nur am Geräusch erkennen kann und wenn ich mich ganz schnell umdrehe, dann sehe ich den Fänger der Flasche. Ich stelle sie weg.
Ich bin seit über 20 Jahren Lehrerin und das ist mir noch nie passiert. Ich komme mir vor wie in einem Alptraum. Und ich werde wütend, sehr wütend.
Fragen über Fragen
"Warum macht ihr das?" frage ich die Klasse und bekomme keine Antwort.
"Ich sehe meinen Unterricht als ein Angebot und euch sehe ich als Freiwillige hier. Warum verhaltet ihr euch so?" - doch auch hier - keine Antwort.
Ich bin echt wütend!
Wenn ich sehr wütend bin, dann sage ich schon mal Sachen, die mir nachher leid tun. So auch hier: Als ich entdecke, dass alle Kabel ausgestöpselt sind, stöpsle ich sie wieder zusammen. Der Beamer funktioniert trotzdem nicht. Die Kabel für den Beamer hängen über meinem Kopf, ein Schüler sagt, ich müsse eben auf einen Stuhl klettern, um die Kabel wieder zusammenzustecken. Ich sehe mich vor meinem inneren Auge auf einen Stuhl klettern und da oben am Beamer herumfummeln. Ich bin kein Fliegengewicht und nicht sehr groß, der Stuhl wird vermutlich nicht ausreichen. Und dann sehe ich die Klasse, wie sie gespannt guckt, was ich denn jetzt mache. Ob ich auf den Stuhl steige und ein Schauspiel biete? Ob sie in dieser Zeit wieder unbeaufsichtigt Flaschen werfen können?
Ich entscheide mich dagegen und bin sehr wütend. Und da passiert es: Ich sage: "Wie soll ich Unterricht machen, wenn ihr mir die Stecker aus den Geräten zieht, das ist doch echt das Letzte."
Und da sind sie sauer: "Wie können Sie sagen, dass wir das waren? Das wissen Sie doch überhaupt nicht." Sie empören sich und es stimmt - ich weiß nicht, ob sie es waren oder ob vorher eine andere Klasse im Raum war. Eigentlich hatte ich angenommen, dass in Zeiten von Corona alle in ihrem Raum bleiben.
Das Ende der Stunde
Die Stunde endet damit, dass ich den Schüler*innen Multiple Choice Aufgaben gebe, die sie bearbeiten sollen, damit ich endlich aus dem Fokus bin. Sie bleiben laut, doch ich kann mich setzen. Ich fühle mich - mit meiner ganzen Coachingausbildung und -expertise, mit meinem Wissen über Statuswechsel, Persönlichkeitsprofile, Classroom-Management usw. - dennoch als kompletter Versager.
Der Hintergrund
Ich überlege. Die letzten Wochen haben an meinen Nerven gezehrt. Wochen, in denen das Ministerium sagte, die Schüler*innen müssen den ganzen Tag Masken tragen und die Lehrer*innen müssen sie dabei den ganzen Tag beaufsichtigen. Auch die Pausen müssen die Schüler*innen und Lehrer*innen gemeinsam verbringen. Dann: Die Schüler*innen brauchen die Masken jetzt im Unterricht nicht mehr zu tragen und der Anspruch in meiner Schule ist, dass wir sie dennoch dazu anhalten sollen. Integrierte Pausen, die Schüler dürfen jetzt wieder raus, aber es gibt keine Klingel und jeder Lehrende entscheidet individuell, wann Pause gemacht wird. Die Schüler*innen kommen natürlich immer zu spät. Der eine Lehrer macht die Pause in der Mitte der Stunde, der andere am Ende - keine klaren Regeln. Damit kommen die Schüler*innen nicht klar. Ich übrigens auch nicht. Ich bin ziemlich ausgelaugt. Und es ist kein Geheimnis, dass man mit wenig Energie angreifbarer ist, als wenn man sich voll in seiner Mitte fühlt.
Wenn ich am Ende des Schultages ins Lehrerzimmer komme, höre ich von meinen Kollegen*innen auch, dass ihnen die aktuelle Situation sehr schwer fällt. Ich höre das auch aus anderen Schulen. Wobei jede Schule ein wenig anders agiert.
Ich merke, dass ich Pausen brauche. Ich brauche eine Entspannungsphase zwischen den Stunden und ich brauche einen Plan für diese Klasse. Wie würde ich vorgehen, wenn ich mein eigener Coachingkunde wäre?
Ein Plan, ein Plan, wer hat einen Plan?
Den Plan bekomme ich von einer Freundin, die auch Lehrerin ist und die Situation kennt.
"Liebe Klasse! Wie ihr in der letzten Woche bemerkt habt, ist normaler Unterricht hier im Moment nicht möglich. Wir werden von daher ab jetzt wie folgt vorgehen: Ich verteile am Anfang der Stunde einen Text und Aufgaben dazu, diese bearbeiten Sie in der Stunde in Stillarbeit. Am Ende der Stunde geben Sie mir die Aufgaben ab und ich korrigiere sie und benote sie. In der Folgestunde erhalten Sie die Aufgaben zurück und Lösungshinweise. Wenn Sie Fragen haben, können Sie mir diese per E-Mail stellen, ich werde sie dann umgehend beantworten. (Natürlich wäre auch ein Fragen Padlet eine Möglichkeit gewesen - aber hatte ich erwähnt, dass der Beamer nicht funktioniert?). Es gibt hier bestimmt 50% Schüler*innen, die gerne lernen wollen, aber aufgrund der Situation nicht lernen können. Auf der anderen Seite können wir Lehrer*innen nicht herausfinden, wer die Störer sind. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten: Eine Möglichkeit wäre es, dass diejenigen, die lernen wollen, Verantwortung für Ihren Lernprozess übernehmen und uns sagen, wer die Störer sind, sodass wir mit diesen reden können. Wenn die Störer nicht mehr stören, können wir wieder mit einem "normalen" Unterricht fortfahren."
Nach dieser Rede ruft natürlich schon wieder einer durch die Klasse: "Sie wollen, dass wir unsere Mitschüler verpetzen? Das werden wir niemals tun!" und ich versuche das Dilemma erneut zu erklären. Dann gehe ich zu dem angekündigten Verfahren über und es läuft für diese 90 Minuten ganz okay. Ein Klassensprechergespräch und drei Stunden später gibt es zwar keine Brummer mehr, aber die Klasse kann sich nicht länger als 30 Minuten am Stück konzentrieren. Dann fängt das Herumgelaufe, Aufs-Klo-Gegehe und Geschwätze an. Ich ziehe das Programm dennoch durch. Mal gucken, wie es nächste Woche weiter geht.
Was tun mit der Wut?
Was das wütend werden betrifft: Ich kaufe mir ein Buch (wenn ich ein Problem habe, kaufe ich immer ein Buch, das ist schon seit meiner Jugend so. Meine Freundinnen machen sich oft lustig darüber). Das Buch heißt: Fünf-Minuten-Übungen für Lehrer: Achtsamkeit von Ferdinand Falkenberg und ist im Auer Verlag erschienen. Ich blättere durch die Seiten und lasse mich von meinem Gefühl leiten. Dann stoße ich auf eine Übung, die ich aus meiner Coachingausbildung kenne, es ist eine NLP Übung, Paparazzi heißt sie.
"Paparazzi" (Ebenda S. 21)
Stelle dir vor, dass du durch eine Kamera blickst oder durch dein Smartphone. Du hast an der Kamera/in der Foto-App viele Regler.
- Erster Regler: Die Farbe ist aus dem Bild, du siehst deinen Gegenüber nur noch in Schwarz-Weiß. Die Konfliktsituation ist gar nicht mehr so intensiv.
- Drehe an deinem Zoom. Dein Gegenüber wird immer kleiner - dein Problem damit auch.
- Anschließend nutzt du die Verzerr-Funktion. Du veränderst die Proportionen, der Kopf wird riesig oder total klein, ähnlich einem Spiegelkabinett. Jetzt ist das Ganze eigentlich gar nicht mehr so tragisch, oder?"
Im NLP spricht man hier übrigens von der Veränderung der Submodalitäten und da gibt es sehr viele Möglichkeiten: Sehen Sie doch mal im NLP Portal nach, wenn es Sie interessiert.
Dafür entscheide ich mich. Das werde ich ausprobieren und dann mal schauen, wie es weitergeht. Mein Ziel heißt "in meiner Mitte bleiben".
Als Alternative böte sich der Perspektivwechsel an
Das würde ich mit meinen Klienten machen. Durch eine Methode, die dem Familienstellen ähnlich ist und vermutlich denselben Ursprung hat - sie heißt Systemvisualisierung - versetzt der Klient sich unter anderem auch in die Lage des anderen - hier also würde ich mich in die Störer hineinversetzen.
Aber ich merke, dass ich das aktuell noch nicht kann, das Ereignis muss vorher noch ein bisschen von mir abrücken.
Ja, liebe Leserinnen und liebe Leser, so kann es gehen: Trotz diverser Ausbildungen und viel Lehrerfahrung, gerät man immer wieder an seine Grenzen. Und jetzt gerade, wo ich zuhause am Rechner sitze, kann ich dazu kluge Sprüche machen: Man kann seine Grenzen nur erweitern, wenn man solche Grenzerfahrungen macht. Wie es dann nächste Woche aussieht, das sehen wir dann.
Ich grüße Sie herzlich und falls Sie Kommentare oder Anregungen dazu machen möchten, immer gerne!
Ute Matthias
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